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Eine ganze Woche lang sonnte Jo sich in ihrem Triumph. Charlie hielt Wort, beruhigte Nina und überzeugte sie von den Vorteilen von Jos Engagement im Ponyclub gegenüber der Arbeit auf der Rennbahn. Er war sich sehr wohl bewusst, dass Jo diesen Akt des Ungehorsams gebraucht hatte, um über den Tod ihres Bruders hinwegzukommen.
Nina ärgerte sich zwar über Jos Verhalten, sah Charlies Gründe aber ein, und so beschränkte sich ihre Kritik auf einige wenige Bemerkungen darüber, wie leichtsinnig es gewesen sei, sich erneut die Schulter zu verletzen. Sie gab sich große Mühe, Jo aufzuheitern, ermutigte sie, mehr Zeit mit ihren Reiterfreundinnen zu verbringen, und erlaubte zu Jos großer Überraschung sogar, dass Dianne bei ihr übernachtete.
Am Samstagmorgen nach ihrem Sieg lehnte Jo sich aus ihrem Zimmerfenster. Wie gerne wäre sie nun unten in der Botany Bay gewesen, um beim Baden der Rennpferde zu helfen. Der Beweis ihrer Reitkünste hatte sie ihrem Ziel anscheinend keinen Schritt näher gebracht. Das bedrückte Jo sehr. Sie sah, wie Sam es sich ohne Protest gefallen ließ, dass Suzie Wong an seinem Ohr kaute, während er draußen in der Morgensonne lag. Davon sank ihr Stimmungsbarometer nur noch weiter. Ihre Schulter tat weh, und bei dem Gedanken, dass sie einen ganzen Monat lang nicht reiten durfte, fühlte sie sich wie eine lebenslänglich Verurteilte. Traurig pflückte sie eine Blüte von dem gelben Rosenbusch, der unter ihrem Fenster wuchs und dessen gelbe Rosetten vor zwei Tagen aufgeblüht waren.
Jo zupfte ein Blütenblatt nach dem anderen ab, sah zu, wie es in der sanften Brise davonschwebte, und schalt sich für ihren Trübsinn. Sie hätte eigentlich glücklich sein müssen. Immerhin hatte sie das seit ihrem Beitritt zum Ponyclub angestrebte Ziel erreicht. Stattdessen war sie müde und bedrückt. Sie dachte über die widersprüchlichen Folgen der letzten Wochen nach. Einerseits hatten ihre Eltern ihr die Teilnahme an dem Turnier verziehen, das als eines der anspruchsvollsten in ganz Australien galt. Andererseits verboten sie ihr weiterhin die Arbeit auf der Rennbahn. Außerdem lag ihr Nina wieder mit ihren Plänen für eine Karriere als Fotomodell in den Ohren.
Das letzte Blütenblatt trudelte zu Boden. Jo schloss das Fliegengitter des Fensters und ließ sich entnervt aufs Bett fallen. Wenn Rick noch lebte, würde er sie sicher unterstützen. Dad hätte ihn gebeten, ein Auge auf sie zu haben und ihr die umgänglichen Pferde zu geben – was nicht hieß, dass sie mit den schwierigen nicht zurechtgekommen wäre. Jo nestelte an ihrer Armschlinge und fühlte sich hilflos. Sie schlüpfte aus dem Nachthemd und zog einen Pulli und Jeans an.
Warum gab es nur all diese dämlichen Regeln, die für Jungen und Mädchen unterschiedlich waren? Schließlich hatte sie Talent für das Pferdetraining und war der Arbeit auf der Rennbahn körperlich gewachsen. Pferdetrainerin war ihr Traumberuf. Wie oft hatte sie ihren Vater sagen hören, dass man nur dann Höchstleistungen erbringen konnte, wenn man das, was man tat, mit wahrer Leidenschaft betrieb.
»Ich will kein dämliches Fotomodell werden, sondern Pferde trainieren. Und das werde ich auch tun«, sagte Jo ärgerlich zu ihrem Spiegelbild und fuhr sich heftig mit der Bürste durch das verfilzte Haar.
Sorgen bereitete ihr auch die bevorstehende Schulabschlussprüfung. Dianne wollte am Vormittag vorbeikommen, um mit Jo Geschichte und Biologie zu pauken. Nina und Charlie hatten sich damit einverstanden erklärt, dass Jo am Ende des Jahres von der Schule abging, wenn sie einigermaßen annehmbar bei den Prüfungen abschnitt. Ihre bisherigen schulischen Leistungen gaben allerdings keinen Anlass zu großer Hoffnung. Die Schwierigkeiten schienen sich unüberwindbar vor Jo aufzutürmen.
Sie schleuderte die Haarbürste auf den Frisiertisch, kroch voll bekleidet unter die geblümte Bettdecke und zog sie bis über den Kopf. Schon zwei Sekunden später warf sie die Decke wieder beiseite, sprang auf und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Wenn diese ganzen Probleme ihren Grund nur darin hatten, dass sie ein Mädchen war, würde sie sich dagegen zur Wehr setzen. Immerhin gab es auch andere Frauen, die in der Welt der Pferderennen erfolgreich waren. Warum also nicht sie? Sie würde einen Weg finden.
Jo griff nach einem Gummiband, fasste ihr aschblondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, eilte aus dem Zimmer und machte sich auf die Suche nach ihren Eltern. Charlie und Nina frühstückten gerade im von der Morgensonne hell erleuchteten Wintergarten. Der Raum duftete angenehm nach frischem Toast und Kaffee. Einen Stift in der Hand und die neueste Rennliste auf dem Schoß, telefonierte Charlie mit Ned Kelly, um ihm zu sagen, auf welche Pferde er bei den nachmittäglichen Rennen setzen sollte.
»Guten Morgen, Mum«, sagte Jo und küsste Nina auf die Wange. Dann blieb sie, die Hände in die Hüften gestemmt und mit dem Rücken zur Glasscheibe, stehen.
Nina blickte von ihrer Zeitschrift auf, und ihr Herz machte einen Satz. Auf den ersten Blick sah die schlanke, blasse Joanna mit ihrem zurückgebundenen Haar aus wie Rick.
»Geht es deiner Schulter besser, Schatz?«, fragte sie rasch, um sich von den Gedanken an ihren Sohn abzulenken. Joanna machte ihr Sorgen. Sie hatte abgenommen und aß viel zu wenig.
»Inzwischen wieder recht gut, danke, Mum. Es tut kaum noch weh«, erwiderte Jo. Sie straffte die Schultern, und ein entschlossenes Glitzern trat in ihre violetten Augen.
»Du machst ein Gesicht, als hättest du uns etwas mitzuteilen«, stellte Charlie fest, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte.
Jo lachte.
»Wie schaffst du es nur immer, meine Gedanken zu lesen, Dad?«
»Nun, raus mit der Sprache«, forderte Charlie sie lächelnd auf.
Jo war wirklich ein sehr schönes Mädchen. Vielleicht hatte Nina doch nicht so unrecht damit, sie zu einer Modelkarriere zu drängen.
Jo holte tief Luft.
»Gran hat mich über die Schulferien nach Dublin Park eingeladen. Darf ich bitte hinfahren, Dad?«
Wenn man sie schon von der Bahnarbeit fernhielt, konnte sie wenigstens versuchen, so viel wie möglich über die Aufzucht und Pflege von Vollblutpferden zu lernen. Falls ihre Großmutter sie für begabt hielt, könnte sie ihre Eltern möglicherweise davon überzeugen, sie in Dublin Park arbeiten zu lassen.
»Gleich nach den Ferien finden die Prüfungen statt«, entgegnete Charlie langsam und zog missbilligend die Augenbrauen zusammen. Er fing an, mit seinem Stift herumzuspielen. Der Gedanke, dass eines seiner Kinder mit Wayne in Berührung kommen sollte, verursachte ihm wie immer Unbehagen.
Zum Zeitpunkt von Sidney Kingsfords Tod hatte Dublin Park den Gipfel des Ruhmes erreicht und war eines der angesehensten Gestüte in New South Wales gewesen. Fünf Jahre lang hatte Charlie sich dafür abgerackert, dass das so blieb. Und dann hatte Wayne alles kaputt gemacht, und Elaine sah dabei zu. Charlie musste sich damals gegen beide durchsetzen. Er hatte nie verstanden, warum seine Mutter der Spielsucht seines Bruders mit so viel Verständnis begegnete. Nur aus Rücksicht auf seine zarte, einfühlsame Mutter bestand Charlie nicht auf einem Verkauf des Anwesens. Er wusste, wie sehr Elaine Dublin Park liebte und wie viel es ihr bedeutete. Es war nicht nur ihr Zuhause, sondern auch die letzte Ruhestätte des Mannes, den sie vierzig Jahre lang geliebt hatte.
Doch irgendwann konnte Charlie nicht mehr so weitermachen, und er hatte sich einverstanden erklärt, sich seinen Anteil in Form von Pferden auszahlen zu lassen. Außerdem bat er seine Anwälte, eine Klausel in die Vereinbarung einzufügen, dass er seine Stuten kostenlos in Dublin Park decken lassen und seine Pferde unterstellen konnte. Wayne war zwar sehr erbost darüber, konnte jedoch wegen seiner vielen Schulden nichts dagegen unternehmen. Und obwohl die beiden Brüder auf Ricks Beerdigung Waffenstillstand geschlossen hatten, war der Konflikt noch lange nicht aus der Welt geräumt.
Charlie steckte den Stift wieder in die Brusttasche und strich sich mit einer ungeduldigen Bewegung das Hemd glatt. Man musste die Vergangenheit ruhen lassen. Jo, die sein Verhalten missdeutete, machte sich auf eine Auseinandersetzung gefasst.
»Die trockene Luft und die viele Sonne werden deinen Teint ruinieren«, rief Nina entsetzt. »Ich habe in die Wege geleitet, dass du nach deinem Examen für einen Freund ein paar Kleider vorführen kannst. Nur zur Probe, damit du Erfahrung bekommst. Und dann müssen wir alles für die Schweiz vorbereiten.«
Träumerisch sah sie Charlie an.
»Es wäre doch nett, wenn wir die Weihnachtsferien in St. Moritz verbringen würden, bevor Joanna in Pierrefeu anfängt.« Sie nahm ihre Kaffeetasse vom Glastisch und trank einen Schluck.
Am liebsten hätte Jo laut losgeschrien. Zwei rote Flecke erschienen auf ihren bleichen Wangen.
»Mum, wann wirst du es endlich kapieren?«, brach es aus ihr heraus. »Ich will nicht auf ein Pensionat, und außerdem bin ich zu klein und zu dick, um Fotomodell zu werden. Ich will Pferde trainieren wie Dad. Das ist alles, was ich mir wünsche.«
»Sprich nicht so mit deiner Mutter«, befahl Charlie und legte die Rennliste weg.
Nina stellte Tasse und Untertasse ab. Ihre rechte Hand zitterte so sehr, dass sie die linke zu Hilfe nehmen musste. Ihre Augen waren feucht.
»Dann musst du eben abnehmen, Liebling … Bitte, Charlie, wir haben das doch schon so oft besprochen«, schluchzte sie.
Charlie legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Überlass das mir, Neene«, sagte er sanft. »Aber bevor wir weiterreden, wirst du dich bei deiner Mutter entschuldigen, Joanna«, fügte er streng hinzu.
Tochter und Vater starrten einander an. Schließlich wandte Jo verzweifelt den Blick ab. Ihr Vater nannte sie sonst nie Joanna.
»Bitte, wimmelt mich nicht immer ab«, flehte sie, flocht die Finger ineinander und drängte die Tränen zurück. »Wenn ich nicht auf der Rennbahn arbeiten darf, könnte ich doch wenigstens mehr über Pferde lernen. Es war Grans Vorschlag, dass ich sie besuchen soll. Ich verspreche, dort auch für die Schule zu büffeln. Es tut mir leid, Mum, ich wollte dich nicht aufregen.«
Obwohl ihre Eltern es ihr sicher nicht erlauben würden, machte ihr der Gedanke, zu einem Leben weit weg von ihren geliebten Pferden gezwungen zu werden, solche Angst, dass sie einfach nicht lockerlassen konnte.
Charlie fühlte sich hin und her gerissen. Sein Herz drängte ihn, die größte Leidenschaft seines Lebens mit seiner Tochter zu teilen und sie in die Geheimnisse seines Berufes einzuweihen. Doch sein Verstand riet ihm, den sicheren Weg zu beschreiten, für den er und Nina sich entschieden hatten. Jo würde die Schule abschließen, ein Mädchenpensionat besuchen und danach eine Ausbildung zum Fotomodell machen. Aber als er Jos erschöpftes Gesicht mit den Augenringen sah, die in den letzten Wochen noch dunkler geworden waren, und daran dachte, was sie in letzter Zeit mitgemacht hatte, kam er zu dem Schluss, dass sie ein wenig Abstand brauchte, um nicht ständig an Ricks Tod erinnert zu werden. Inzwischen sah das Mädchen richtiggehend krank aus. Auch seine Mutter hatte einen müden und erschöpften Eindruck auf ihn gemacht. Vielleicht konnten die beiden einander ja ein wenig aufmuntern.
»Pass auf, deine Mutter und ich sind zwar einverstanden, dass du Ende des Jahres von der Schule abgehst, aber du weißt genauso gut wie ich, dass eine Frau nichts auf der Rennbahn verloren hat.«
Jo krampfte sich der Magen zusammen.
»Allerdings«, fuhr Charlie fort, »werden ein paar Wochen in Dublin Park dir sicher nicht schaden. Möglicherweise sind ein paar Sonnenstrahlen und eine ordentliche Prise Landluft genau das Richtige für dich, damit du nicht mehr so blass um die Nase aussiehst.«
Er grinste breit.
»Natürlich werde ich mich bei deiner Großmutter erkundigen, ob du auch brav lernst.«
Jo stand reglos da.
»Das heißt: Ja, du darfst deine Großmutter besuchen. Bestimmt freut sie sich genauso wie du.«
Jos Miene hellte sich auf, und sie fiel ihrem Vater jubelnd um den Hals.
»Danke, Dad, danke, Mum. Ich liebe euch so sehr.« Sie umarmte beide nacheinander.
Erleichtert, dass die Auseinandersetzung wieder einmal hinausgeschoben war, griff Nina nach ihrem Telefonregister.
»Wenn dann alle zufrieden sind«, meinte sie mit säuerlicher Miene. Als sie Charlies warnenden Blick bemerkte, zwang sie sich zu einem Lächeln. »Am besten rufe ich Wendy und John van Haast an. Bestimmt würden sie sich freuen, wenn du bei ihnen in Baerami Creek vorbeischaust. Sie haben eine Tochter in deinem Alter.«
»Du könntest uns ein paar Flaschen von ihrem neuen Rotwein mitbringen. Sie haben neben der Pferdezucht mit dem Weinanbau angefangen.« Charlie sah auf die Uhr.
»Was soll das mit Baerami Creek?«, fragte da eine Stimme.
Alle drehten sich um, und Bertie kam in den Wintergarten geschlendert. Er hatte einen beigen Pullover aus Bändchengarn lässig um die Schultern geschlungen.
»Bertie«, rief Nina und sprang auf, um ihn zu umarmen. »Wie schön! Warum gibst du uns eigentlich nie Bescheid, bevor du kommst?«
Während des Semesters lebte Bertie im St. John’s College der Universität von Sydney. Nina war immer froh, wenn er anrief oder der Familie einen Besuch abstattete, was allerdings sehr selten geschah. Charlie, dem Berties Schwäche für Pferdewetten ein Dorn im Auge war, hatte darauf bestanden, dass sein Sohn im Studentenheim lebte und lernte, sich sein monatliches Budget einzuteilen. Alle drei Monate musste Bertie seinem Vater eine Abrechnung vorlegen.
Während Bertie sich von seiner Mutter auf beide Wangen küssen ließ, wurde er von Jo argwöhnisch beobachtet. Ihr für gewöhnlich so selbstbewusster und immer zu Scherzen aufgelegter großer Bruder wirkte heute trotz seines strahlenden Lächelns verkatert, besorgt und eigenartig nervös. Seine Hände zuckten unruhig in den Hosentaschen, und er konnte seinen Eltern und seiner Schwester nicht in die Augen sehen.
»Hallo, Bertie. Was soll denn mit Baerami Creek sein?«, erkundigte Jo sich.
»Hallo, Schwesterherz. Eigentlich gar nichts. Ein paar Jungs aus meinem Semester haben vorgeschlagen, eine Woche Urlaub dort zu machen, bevor die Prüfungen beginnen.« Er breitete die Arme aus. »Ich weiß: ›Wer nicht zu büffeln beginnt, bevor die alte Jacaranda blüht, kann das Examen vergessen‹«, leierte er. Alle kannten die Legende, die sich um den alten Palisanderbaum auf dem Hauptplatz der Universität rankte.
»Also warst du fleißig und wirst bald so weit sein, es mit der ARV aufzunehmen, mein Sohn?«, meinte Charlie nickend.
Dabei musterte er seinen Ältesten prüfend, denn er ahnte, dass es sich nicht um einen Spontanbesuch handelte. Charlies gerichtliche Auseinandersetzungen mit der angesehenen australischen Rennvereinigung, der viele einflussreiche Persönlichkeiten angehörten, waren berüchtigt.
»Noch nicht ganz. Aber letztens habe ich bei einer Probeverhandlung, die einer unserer Dozenten organisiert hatte, einen großen Sieg errungen und den Staatsanwalt ordentlich zur Schnecke gemacht«, erwiderte Bertie mit einem verlegenen Auflachen.
»Was schmiedet ihr für große Pläne?«, wechselte er rasch das Thema und strich sich die dunkelbraune Haarlocke aus dem Gesicht, die ihm ständig in die Stirn rutschte. Er war attraktiv, groß, breitschultrig und hatte schwarze Augen, die ihm eine geheimnisvolle Ausstrahlung verliehen.
»Deine Schwester wird ihre Großmutter in Dublin Park besuchen«, antwortete Charlie kühl.
»Das ist alles?«, gab Bertie gelangweilt zurück, wobei er seinen Vater mit seiner Gleichgültigkeit noch weiter verärgerte.
Charlie war einerseits tief enttäuscht, weil Bertie sich so gar nicht für Vollblutpferde interessierte. Andererseits erleichterte es ihn, dass ihn offenbar nichts nach Dublin Park zog. So hatte er kaum Kontakt mit seinem Onkel. Bertie erinnerte Charlie nämlich in vielem an Wayne, was ihn nicht wenig besorgte. Außerdem erregten Berties unangemeldete Besuche meist sein Misstrauen, denn diese waren häufig mit einem Anliegen verbunden. Auch heute hätte er seinen letzten Dollar darauf verwettet, dass sein Sohn etwas von ihm wollte. »Offen gestanden möchte ich dich um einen großen Gefallen bitten, Dad«, begann Bertie etwas überhastet. Jo bemerkte den angestrengten Zug um seinen Mund und den ängstlichen Blick. »Ich bräuchte einen Vorschuss auf meinen monatlichen Scheck.«
Er errötete bis zu den Haarwurzeln, und sein Herz klopfte, denn er wagte nicht, seinem Vater zu gestehen, dass er sich betrunken und in einer Nacht über dreihundert Dollar am Kartentisch verloren hatte. Und um das Maß vollzumachen, kümmerte er sich am nächsten Tag weder um sein leeres Bankkonto noch um die Warnungen seines Vaters, niemals Schuldscheine auszustellen, und hatte sich weitere zweihundert Dollar geliehen, um bei den Rennen in Warwick Farm auf ein Pferd zu setzen.
»Du wirst dir doch nicht etwa diese Rostlaube kaufen, von der du erzählt hast?«, mischte Jo sich ein.
Sie tänzelte, an einem Apfel knabbernd, im Zimmer umher, fest dazu entschlossen, sich von Berties Desinteresse nicht die Vorfreude auf ihren Besuch in Dublin Farm verderben zu lassen.
»Hör doch mit diesem nervigen Herumgehopse auf, Jo«, schalt Nina. »Natürlich gibt Dad dir einen Vorschuss auf deine Monatszahlung, nicht wahr, Charlie? Du siehst so mager aus, Bertie, mein Schatz. Geben sie dir im College nicht genug zu essen?«
»Aber ja doch«, entgegnete Bertie, der dank der Unterstützung seiner Mutter neuen Mut fasste. »Könntest du mir nicht gleich das Geld für zwei Monate geben, Dad?« Winzige Schweißperlen standen ihm auf der Oberlippe, und er wischte sie rasch mit dem Handrücken weg.
»Am besten erzählst du mir die ganze Geschichte, mein Sohn«, erwiderte Charlie streng und bedeutete Bertie, ihm in sein Arbeitszimmer zu folgen.
Auf einmal bekam Jo Mitleid mit ihrem großen Bruder. Bei den Worten seines Vaters war seine großspurige Art plötzlich wie weggeblasen gewesen, und er sah aus wie ein kleiner Junge, den man bei einer Riesendummheit erwischt hatte. Sogar seine Ohren waren dunkelrot angelaufen.
Bertie war ein verschlossener Mensch, der seine Gefühle nicht zeigte. Seine einzige Freude bestand darin, mit vollen Händen Geld auszugeben. Schon als Kind hatte er es geschafft, Nina stets das teuerste Spielzeug abzubetteln, bis Charlie diesem Treiben einen Riegel vorgeschoben hatte.
Nach dem Tod eines Freundes vor zwei Jahren war Bertie dann ausgeflippt. Er trank und schmiss mit Geld um sich – alles auf Kosten seines Vaters – und riskierte damit seine Zulassung zum Studium. Ricks Tod hatte ihn ebenfalls tief getroffen; er war nur nicht in der Lage, das zu zeigen. Inzwischen bereute er tief, dass er eine so hohe Summe beim Kartenspielen und auf der Rennbahn verloren hatte. Doch gleichzeitig hoffte er im Innersten seines Herzens, dass er nach Ricks Tod zum Lieblingssohn seines Vaters aufrücken würde.
Bertie schluckte, als die Tür des Arbeitszimmers hinter ihm ins Schloss fiel. Nun konnte seine nachsichtige Mutter ihm nicht mehr helfen, und er würde sich ganz allein der Standpauke stellen müssen.
Im Wintergarten räumte Jackie unterdessen das schmutzige Geschirr ab und eilte zur Tür, weil es geläutet hatte.
»Das ist bestimmt Dianne«, jubelte Jo beim Klang der Türglocke und folgte Jackie hastig, froh, der angespannten Stimmung entrinnen zu können.
Ein paar Tage später war Jo, die Koffer voller Schulbücher, auf dem Weg nach Dublin Park. Widerstreitende Gefühle bewegten sie, als der von Charlies Chauffeur gesteuerte Wagen mit ihr und Sam an Bord an einem frühen Nachmittag in der letzten Augustwoche durch das von beeindruckenden Sandsteinsäulen flankierte Tor des Gestüts fuhr und die breite, gekieste Auffahrt entlangrollte.
Dublin Park lag vierzig Kilometer südlich von Denman, am Anfang des Widden Valley – auch Tal der Sieger genannt –, inmitten der üppigsten Weiden im ganzen Umkreis. Auf der Fahrt zum Haus erschrak Jo darüber, wie sehr der Straßenbelag seit ihrem letzten Besuch gelitten hatte. Der Wagen holperte durch riesige Schlaglöcher und schlitterte durch weiche Schlammhaufen, die nach den letzten Regenfällen nicht beseitigt worden waren. Trotz der säuberlich geflickten Zäune, der ordentlichen Schuppen auf den Koppeln und des gemähten Grases am Straßenrand wirkte das Anwesen etwas heruntergekommen, was sich so gar nicht mit Jos Erinnerung decken wollte. Beim Anblick der abblätternden Farbe an den Zaunpfosten mochte man kaum glauben, dass auf diesem Gestüt seit 1902 die Sieger des Melbourne-Cups gezüchtet wurden. Doch trotz der überall sichtbaren Spuren des Verfalls fühlte Jo sich sofort wieder wie zu Hause, und sie blickte aufgeregt aus dem halb geöffneten Autofenster. Eine Hand leicht auf Sams Halsband gelegt, hielt sie Ausschau nach den Pferden auf den Koppeln. Als sie sich den Ställen näherten, sah Jo zwei Fohlen, die bei ihren Müttern tranken, und sie schluckte. Bei ihrem letzten Besuch hatte Rick die Fohlen als Erster gesehen. Sam saß hechelnd neben ihr, richtete sich auf und wedelte winselnd mit dem Schwanz. Jo entdeckte Elaine, die vor dem großen alten, aus dem hiesigen Sandstein erbauten Haus stand. Rasch wischte sie sich die Tränen weg und begann, wie wild zu winken und zu rufen. Den breitkrempigen Strohhut in einer behandschuhten Hand, kam Elaine auf sie zugeeilt. In der anderen Hand hielt sie eine kleine Gartenschippe. Jo und Sam sprangen aus dem Fahrzeug, noch ehe es richtig stand.
»Den ganzen Tag halte ich schon Ausschau nach euch. Ich musste mich irgendwie beschäftigen, um mich abzulenken«, rief Elaine atemlos. »Ach, ich freue mich ja so, dass du da bist. Wir beide werden uns prima amüsieren«, sagte sie, ein strahlendes Lächeln im Gesicht. Jo fiel ihr um den Hals, während Sam kläffend und mit heftigem Schwanzwedeln um sie herumrannte.
Nachdem Elaine sich aus Jos Umarmung befreit hatte, zog sie die Handschuhe aus, stopfte sie in die großen Taschen ihres Rockes und strich sich die Bluse glatt.
»Du wirst mit jedem Tag hübscher, mein Kind. Aber deine Gran ist immer noch größer als du«, kicherte sie, um die Stimmung aufzulockern. Sie hatte Angst, dass dieser Ort traurige Erinnerungen in Jo wachrufen könnte.
»Nur ein kleines Stück«, erwiderte Jo lachend und richtete sich zu voller Größe auf. Ihre Großmutter überragte sie lediglich um wenige Zentimeter.
»Jedenfalls musst du noch wachsen. Erzähl mir, was du in letzter Zeit so getrieben hast«, meinte Elaine, hakte Jo unter und ging mit ihr zum Haus.
»Wie schön es hier ist«, stellte Jo fest und blieb stehen, um die Kletterrosen zu bewundern, die sich in üppiger Pracht an der Wand emporrankten. Schwere rosarote Blüten hingen herunter bis über die Fensterscheiben. Die Blumenbeete entlang der Veranda, in denen Elaine bei ihrer Ankunft gerade gearbeitet hatte, prangten in leuchtenden Farben.
Obwohl man dem Garten die liebevolle Pflege ansah, hatten die Holzteile einen neuen Anstrich bitter nötig. Die Fliegengittertür vor dem Eingang hing schief in den Angeln, und auf dem Dach, wo dringend einige Dachpfannen ersetzt werden mussten, flatterte eine ausgeblichene blaue Plane. Trotz der Anzeichen des Verfalls hatte Dublin Park, das hoch über dem Tal aufragte, seine majestätische Ausstrahlung nicht verloren. Jo betrachtete die geschwungenen grünen Hügel, die sich in alle Richtungen erstreckten, und spürte einen Kloß im Hals. Sie wandte ab und bemerkte zu ihrem Erstaunen, wie Elaine verstohlen eine Träne wegwischte.
»Gran«, flüsterte sie. Auch sie spürte ein Brennen in den Augen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Die ausgelassene Stimmung war mit einem Mal wie weggeblasen. Elaine tätschelte Jo die Hand und schniefte. Keine von ihnen sagte ein Wort, aber Jo wusste, dass sie beide an Rick dachten.
»Du siehst blass aus, mein Kind. Es gibt nichts Besseres als gute Landluft, damit du wieder rosige Wangen bekommst. Außerdem musst du etwas essen. Du hast eine lange Fahrt hinter dir«, meinte Elaine übergangslos.
»Ich werde mich von dir aufpäppeln lassen«, antwortete Jo vergnügt. In dem Versuch, die ausgelassene Stimmung wieder heraufzubeschwören, machte sie einen Satz auf die Veranda und begann, an einem Holzbalken zu schaukeln. Ihre Umhängetasche wurde dabei hin und her geschleudert.
In diesem Moment kam ein beleibter, altersgrauer Hütehund herbeigestürmt und bellte Sam wütend an. Sam ging sofort zum Angriff über, wedelte heftig mit dem Schwanz und machte sich, ebenfalls laut bellend, quer durch die Blumenbeete an die Verfolgung des Widersachers. Jo rief Sam zurück, aber der gehorchte zu ihrer Verlegenheit nicht. Nach einigen barschen Befehlen von Elaine trollte sich der Hütehund in seinen Korb auf der Veranda. Sam musste sich eine strenge Standpauke von Jo gefallen lassen und legte sich hechelnd unter einen Baum. Von dort aus behielt er das Geschehen aufmerksam im Auge und wirbelte mit dem Schwanz den Staub auf.
»Diese Tölen! Rupert wird allmählich alt und schwerhörig«, meinte Elaine, die sich von dem Auftritt nicht aus der Ruhe bringen ließ. Zu Jos Erleichterung hatte das Herumtoben der Hunde die beklommene Stimmung vertrieben. Großmutter und Enkelin plauderten angeregt miteinander und gingen ins Haus.
Nachdem der Chauffeur Jos Gepäck hereingebracht und sich verabschiedet hatte, bekam Sam etwas zu trinken und den strikten Befehl, einen Bogen um Rupert zu machen.
Elaine und Jo betraten die große Wohnküche.
»Am besten richtest du dich zuerst in deinem Zimmer ein. Es ist genug heißes Wasser da, falls du duschen möchtest. Aber pass auf, dass du dich nicht verbrühst. Wir hatten nämlich in letzter Zeit Probleme mit dem Wasserdruck«, meinte Elaine und marschierte den langen Flur entlang zu dem großen, sparsam eingerichteten Zimmer, in dem Jo bei ihren Besuchen immer schlief. Das größte Möbelstück war ein breites Doppelbett mit einer neuen weißen, handgesteppten Decke, die mit winzigen weißen Rosen bestickt war. Auf das Kopfkissen hatte Elaine eine einzelne Rose in einem kräftigen Pink gelegt. Jo ließ die Umhängetasche fallen und stürmte zum Bett.
»Du hast sie fertig gemacht. Sie ist wunderschön«, rief sie bewundernd.
Elaine strahlte.
»Hier gibt es an den Abenden nicht viel zu tun. Außerdem beruhigt mich das Handarbeiten. Schau dir die Decke ruhig ein bisschen näher an.«
Jo wischte sich die Hand an der Jeans ab und wagte kaum, den blütenweißen Stoff zu berühren. Sie beugte sich über das Bett. Zwischen den Rosen war in jeder Ecke ihr Name eingestickt.
»Du wirst in Dublin Park immer willkommen sein«, sagte Elaine leise. »Und jetzt mach dich frisch. Nach dem Tee machen wir eine Runde durch das Gestüt, und du wirst unsere Tierpflegerin Linda kennenlernen«, verkündete sie vergnügt. Zufrieden rieb sie sich die Hände und zog sich zurück, um der Köchin bei den Vorbereitungen für den Tee zu helfen.
Nachdem die Tür hinter ihrer Großmutter ins Schloss gefallen war, spürte Jo zum ersten Mal seit Ricks Tod vor Aufregung Schmetterlinge im Bauch. Elaine hatte sie mit offenen Armen willkommen geheißen, und Jo fühlte sich herzlich aufgenommen. Sie eilte zum Fenster und betrachtete froh die Ställe und die üppig grünen Felder, die sich dahinter erstreckten. Eine Elster krächzte in einem Baum, und durch die Fenster wehte frische Landluft herein. Jo eilte in das altmodische Badezimmer, wusch sich rasch das Gesicht und die Hände, zog eine saubere Bluse an und bürstete sich das Haar. Dann lief sie durch das Haus in die geräumige Küche. Ja, sie würde ihren Aufenthalt bestimmt genießen.
»Wayne hat versprochen, in diesem Jahr die Fassade zu streichen«, meinte Elaine fröhlich, als sie sich nach einer Mahlzeit aus frisch gebackenem Teekuchen und heißem süßem Tee mit dem Landrover aufmachten, um Dublin Park zu besichtigen. »Manchmal denke ich, dass wir alle ein bisschen übergeschnappt sind. Wusstest du, dass unser Zuchthengst komfortabler wohnt als wir? Ich liebe diese Tiere ebenso sehr wie dein Großvater es tat.«
Mit einem Seufzer stoppte sie den Landrover vor dem überdachten Zugang zur Koppel des Zuchthengstes.
Rasch folgte Jo ihrer Großmutter, denn sie hatte unzählige Fragen auf dem Herzen. In ihrer Hast hätte sie beinahe Linda umgerannt, die gerade aus einer Box kam.
»Linda, ich hatte gehofft, Sie hier zu treffen. Das ist meine Enkelin Jo«, verkündete Elaine stolz.
Linda war einige Zentimeter größer als Jo und hatte keck geschwungene Lippen. Ihr schulterlanges, gewelltes, braunes Haar trug sie mit einer schlichten Spange zusammengefasst. Sie war in Eile, weil sie noch nach einigen anderen Pferden sehen musste. Nachdem sie Jo rasch zugelächelt und einige knappe Sätze mit ihr gewechselt hatte, entschuldigte sie sich und raste in einem der Geländewagen davon. Jo hielt sie für ziemlich hochnäsig, war aber fest entschlossen, sich an ihrem ersten Tag nicht die Freude verderben zu lassen. Begeistert schnappte sie nach Luft, als der Hengst mit dem schimmernden dunkelbraunen Fell auf sie zugetrabt kam und sie durch die weiten Zwischenräume des frisch gestrichenen Gatters beäugte.
»Das ist Sir Lawrence, ein richtiger Schatz, oder, mein Liebling?«, meinte Elaine lächelnd und strich dem Pferd sanft über die Stirn. Sir Lawrence beantwortete die Frage mit einem lauten Wiehern, drehte dann neugierig die Nüstern zu Jos Brust und fing an, sie zu erkunden. Jo stand reglos da und spürte den angenehm warmen Atem des Pferdes an ihrer Hand, während der Hengst das ihm fremde Mädchen beschnupperte. Offenbar fand Jo Gnade vor seinen Augen, denn schon im nächsten Moment versuchte er, einen Knopf von ihrer Bluse abzukauen. Lachend wich sie zurück.
»Er mag dich«, bestätigte Elaine.
Sie verabschiedeten sich von dem Hengst und fuhren zu dem kleinen Ausguck, der einen freien Blick auf die Koppel links von Sir Lawrence’ Stall bot. Dort waren die Zuchtstuten untergebracht, die in drei Wochen ihre Fohlen zur Welt bringen würden; um diese Jahreszeit standen sie Tag und Nacht unter Beobachtung. Daneben befanden sich der Stall und die Koppel für die neugeborenen Fohlen und ihre Mütter, die Jo bei ihrer Ankunft gesehen hatte.
»Immer noch derselbe alte Wachturm«, sagte Elaine, die sich von hinten genähert hatte. »Es ist früh für die Jahreszeit, aber letzte Nacht ist bereits ein Fohlen geboren worden, das ein wenig Hilfe brauchte.«
Fröstelnd in dem leichten Wind, der am späten Nachmittag aufgekommen war, kuschelte sie sich fester in ihre Jacke.
»Weißt du noch, wie ich dir an deinem vierten Geburtstag erlaubt habe, die neugeborenen Fohlen zu bewachen? Du warst so aufgeregt, dass ich befürchtet habe, ich würde dich am Abend gar nicht mehr ins Bett kriegen. Und als du älter wurdest, hat sich nichts daran geändert.«
Fröhlich lachte Jo auf und schlenderte Arm in Arm mit ihrer Großmutter zurück zum Haus. In der sich rasch abkühlenden Luft röteten sich ihre Wangen.
»Ich rufe später Linda an«, schlug Elaine vor. »Sie soll dir morgen die trächtigen Stuten zeigen. Vielleicht möchtest du sie ja auf ihren Rundgängen begleiten.«
»Das wäre schön. Lässt du mich auch eine Nacht die Stuten bewachen?«, fragte Jo und wirbelte um die eigene Achse. Inzwischen fielen lange Schatten wie dunkle Finger über die Koppeln, und die untergehende Sonne tauchte die Hügel in einen goldenen Schein. Es war so ein idyllisches Fleckchen Erde.
»Ich habe deiner Mum zwar versprochen, dass ich dich dazu anhalten werde, für die Schule zu lernen, aber das kriegen wir schon hin.« Elaine lächelte.
Beim Abendessen sah Jo zum ersten Mal seit der Beerdigung ihren Onkel wieder. Wayne, der gerade vom Sägewerk zurückgekehrt war, nahm an dem Tisch aus poliertem Zedernholz Platz, erzählte Elaine von seinen Plänen für die Renovierung einer der großen Scheunen, zeigte ihr eine grobe Skizze, die er für die Umbauarbeiten angefertigt hatte, und legte ihr die Rechnung für das Baumaterial vor.
»Es ist an der Zeit, dass wir sämtliche Gebäude auf dem Gestüt in Ordnung bringen«, sagte Elaine leise und nickte zustimmend.
Jo beobachtete die beiden aufmerksam. Für sie stand fest, dass ihr Onkel kein wirkliches Interesse an Pferden oder dem Gestüt hatte, sondern nur widerstrebend Anweisungen ausführte. Ihr lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. Waynes Blick war ausdruckslos, sein Lächeln gekünstelt und verkniffen. Er richtete einige barsche Bemerkungen an sie und verbreitete eine Kälte, die dafür sorgte, dass Jo sich unerwünscht fühlte. Deshalb war sie froh, dass er sich nach dem Essen rasch verabschiedete.
Vor dem knisternden Kaminfeuer führten Elaine und Jo ein langes Gespräch unter vier Augen. Zögernd begann Jo, von Rick zu erzählen, und durch Elaines mitfühlendes Nachfragen gelang es ihr endlich, die Schutzmauern beiseite zu räumen, die sie seit dem Tod ihres Bruders um sich errichtet hatte. Mit ihrer Großmutter empfand sie eine Vertrautheit, die sie bei ihrer Mutter oft so schmerzlich vermisste. Allein Ricks Namen aussprechen zu dürfen, bedeutete eine unbeschreibliche Erleichterung.
»Er hat verstanden, wie sehr ich Pferde liebe … Wir hatten schon alles geplant«, gestand Jo. »Ich wollte die Pferde ausbilden, die er dann reiten sollte. Und wenn wir einmal heiraten würden, dann nur Menschen, die sich mit Rennpferden auskannten und sie ebenso liebten wie wir.«
Jos naive Weltsicht löste bei Elaine ein nachsichtiges Schmunzeln aus. Sie war froh, dass ihre Enkelin, die sie in ihrer eindringlichen und ernsthaften Art so sehr an Charlie erinnerte, ihr das Herz ausschüttete. Bertie hingegen schien – zwar nicht äußerlich, aber dem Wesen nach – eher nach Wayne geraten zu sein. Hoffentlich hatte ihr ältester Enkel nicht auch die Leichtfertigkeit in finanziellen Dingen und das sprunghafte und wenig weitsichtige Geschäftsgebaren von seinem Onkel geerbt.
Nachdem Wayne damals mit seiner Frau Dublin Park verlassen hatte, entspannte sich die Lage deutlich. Wayne gründete eine Firma, die Rattanmöbel aus Sri Lanka importierte. Zwei Jahre lang hatte das Unternehmen zu Charlies und Elaines großer Freunde floriert. Doch nach der Geburt von Waynes und Amys zweitem Kind fingen die finanziellen Schwierigkeiten an. Wayne hatte sich überschuldet, hohe Summen aus dem Firmenvermögen verspielt und auf großem Fuß gelebt. Amy, die das nicht länger ertragen konnte, trennte sich von Wayne und zog mit den Kindern in ihre Heimatstadt. Die Firmenpleite und das Scheitern seiner Ehe hatten Waynes Neid und die Abneigung gegen seinen Bruder noch gesteigert. Und so setzte er nach seiner Rückkehr nach Dublin Park alles daran, Charlie, Nina und ihrer Familie das Leben zur Hölle zu machen. Das Zerwürfnis zwischen ihren Söhnen hatte Elaine fast das Herz zerrissen. Charlie selbst ließ sich kaum noch in Dublin Park blicken, aber er hinderte zumindest seine Kinder nicht daran, ihre Großmutter zu besuchen.
Jeannie, Elaines jüngste Tochter, hatte einen Rinderzüchter geheiratet und betrieb mit ihm im Nordwesten von Queensland eine Farm. Mutter und Tochter telefonierten zwar häufig, sahen sich wegen der großen Entfernung jedoch nur selten.
Zu einer weiteren schweren Krise war es gekommen, als Charlies bester Freund begann, die Pferde des Gestüts aufzukaufen. Kurt Stoltz hatte es geschafft, sich als Pferdetrainer zu etablieren, und ergriff die Gelegenheit beim Schopf, die sich durch die missliche finanzielle Lage der Kingsfords ergab. Die bereits auf tönernen Füßen stehende Freundschaft der beiden Männer zerbrach, als Charlie ohnmächtig mit ansehen musste, wie Kurt sein Gestüt Rosefield Stud immer weiter ausbaute: Mit den Zuchthengsten und Zuchtstuten der Kingsfords und auf zwei Dritteln des Landes, das seit 1865 zu Dublin Park gehört hatte. Diese Ereignisse waren eine ungemeine Belastung für Elaine und Charlie gewesen, hatten Mutter und Sohn aber noch enger zusammengeschweißt.
Zwei Derbysieger und ein Gewinner des Melbourne Cups hatten auf Rosefield Stud das Licht der Welt erblickt. Dann gründete Kurt ein Weingut, Rosefield Estate, das hauptsächlich den wachsenden Markt in Übersee bediente. Nie würde Elaine Charlies zornigen Blick vergessen, als er schwor, es Kurt eines Tages mit gleicher Münze heimzuzahlen.
»Der arme Sidney hat sich ganz umsonst geplagt. Dabei hat er so große Hoffnungen in Dublin Park und die Zukunft der Familie Kingsford gesetzt«, dachte Elaine mit einem Aufseufzen.
Charlie hatte es zwar von ihren drei Kindern am weitesten gebracht, doch sein Erfolg hatte die Familie eher gespalten als vereint. Aber als Elaine Jos strahlendes Gesicht, ihre aufgeregt funkelnden violetten Augen und ihre überschäumende Lebenskraft sah, während sie von ihrer Liebe zu Pferden sprach, wuchs ihre Zuversicht wieder.
»Ich stelle doch hoffentlich nicht zu viele Fragen?«, meinte Jo, der der Seufzer ihrer Großmutter nicht entgangen war.
»Nein, nein, überhaupt nicht«, erwiderte Elaine liebevoll.
»Erzähl mir mehr von Dublin Park, Gran«, bettelte Jo mit weit aufgerissenen Augen. »Ich will alles darüber wissen. Wie viele Hengste habt ihr? Wie heißen sie? Welche Stuten sind die besten? Wie viele Fohlen sind bereits geboren worden? Wie viele erwartet ihr noch? Wer passt auf sie auf? Was kann ich tun …?«
In diesem Moment wieherte in der Ferne ein Pferd. Jo sprang auf, eilte zum Fenster, schob die alten Brokatvorhänge beiseite und spähte in die Dunkelheit hinaus. Autoscheinwerfer bewegten sich rasch den Hügel hinauf. Sie konnte es kaum erwarten, morgen mit anzupacken.
»Wo soll ich denn anfangen?«, erkundigte sich Elaine, angesteckt von Jos Begeisterung. Allein die Anwesenheit des Mädchens sorgte dafür, dass sie sich viele Jahre jünger fühlte.
»Wo du willst«, antwortete Jo, die inzwischen zurückgekehrt war und sich in die dicken Polster des Rattansofas kuschelte.
»Aber vorher brauchen wir einen Happen zu essen«, meinte Elaine und lief in die Küche, wo sie die Köchin, die gerade zu Bett gehen wollte, anwies, Tee, Kuchen und für Jo eine heiße Schokolade zu servieren. Dann nahm sie drei dicke Fotoalben aus dem vollgestopften Bücherregal im Wohnzimmer, setzte sich neben Jo und zeigte ihr die Fotos der zuletzt auf dem Gestüt eingetroffenen Stuten.
»Ich habe kurz nach der Hochzeit mit deinem Großvater mit dem Fotografieren angefangen. Wir hatten zwar offizielle Fotografen, aber ich hielt es für eine gute Idee, die Pferde in Dublin Park in allen Lebenslagen abzulichten. Als ein Stück greifbarer Geschichte sozusagen. Einige der Pferde erkennst du sicher.«
Sie blätterte das abgegriffene Album durch.
»Schau mal. Das da ist He’s-a-Lad, der drei Cox-Plate-Sieger gezeugt hat«, verkündete sie stolz.
Jo beugte sich hinüber, um den großen Fuchs zu bewundern. Ihre Großmutter roch wie immer leicht nach Rosenblüten und Zimt.
»Und das hier ist Kingsford Gold«, fuhr Elaine fort. »Als er noch Rennen lief, hat er fast immer gewonnen oder ist zumindest unter den ersten Drei gewesen. Er war unser bester Zuchthengst, bevor wir ihn verkaufen mussten.«
Ein träumerischer Ausdruck trat in ihre Augen.
»Er war ein wundervolles Pferd, und dein Dad war ganz vernarrt in ihn. Ich würde ihn gern eines Tages zurückkaufen, wenn er bis dahin nicht zu alt ist.«
Jo musterte den muskulösen, starken Körper, die Kopfhaltung, den kräftigen Hals und die Hinterläufe und musste dabei an die Geschichten über die erfolgreichen Rennpferde denken, die sie in der Kingsford Lodge gehört hatte.
Die alte Dame und das junge Mädchen unterhielten sich bis spät in die Nacht. Jo erfuhr die Namen aller Menschen, die auf dem Gestüt arbeiteten, sowie die der Hengste, der trächtigen und nicht trächtigen Stuten und der Jungpferde, die sich in der Ausbildung befanden. Elaine erzählte ihr von Großvater Kingsfords Tod und von den schweren Zeiten, die sie durchleben musste, bis es ihr Schritt für Schritt gelungen war, das Gestüt wieder auf seinen heutigen Stand zu bringen.
»Es ist nicht so groß und elegant wie zu Lebzeiten deines Großvaters. Vieles muss gestrichen oder repariert werden. Aber Wayne kümmert sich darum, und wir kommen zurecht. Nachdem wir Sir Lawrence gekauft hatten, fingen die Leute wieder an, uns ernst zu nehmen. Das war ein sehr angenehmes Gefühl«, erklärte Elaine.
»Dad und du, ihr wisst so viel, Gran. Glaubst du, ich kann das auch alles lernen?«, fragte Jo ehrfürchtig. »Mum hat keine Ahnung von Pferden, obwohl sie ihr halbes Leben in ihrer Nähe verbracht hat. Sie mag sie nicht einmal.«
»Bei dir tut sich eine Menge zwischen den Ohren, mach mir also nichts vor«, erwiderte Elaine und unterdrückte ein Gähnen. »Du bist wie dein Dad und müsstest dich selbst einmal reden hören. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, gibt es für dich kein Halten mehr. Aber wenn du für die Schule lernen und auch sonst noch alles in den Tag hineinpacken willst, was du dir für deinen Aufenthalt vorgenommen hast, ist es wohl das Beste, wenn du jetzt zu Bett gehst.«
Vor lauter Aufregung bekam Jo kein Auge zu. In das große Doppelbett gekuschelt und die kostbare weiße Steppdecke bis zum Kinn hochgezogen, starrte sie mit großen Augen in die Dunkelheit. Bei jedem unbekannten Geräusch sprang sie auf, lief zum Fenster und blickte, zitternd vor Kälte, in die mondlose Dunkelheit hinaus. Aus dem Wachturm fiel Licht auf die Koppel mit den trächtigen Stuten. Jo hörte Stimmen; sie fragte sich neugierig, ob vielleicht gerade ein Fohlen zur Welt kam. Als sie mit klappernden Zähnen zurück ins Bett kroch und den schmalen Lichtstreifen betrachtete, der unter der Tür hereindrang, nahm sie sich fest vor, Großmutter zu bitten, sie möge doch Nina überzeugen, den albernen Plan mit der Modelkarriere fallen zu lassen.
Jo konnte den morgigen Tag kaum erwarten, trotzdem wurde sie das Gefühl nicht los, dass jemand fehlte, um ihre Freude vollkommen zu machen.
Achselzuckend drehte sie sich um und presste das Gesicht in die Laken. Sie musste lernen, sich damit abzufinden. Rick würde ihr wahrscheinlich für den Rest ihres Lebens fehlen. Trotz dieses ernüchternden Gedankens war sie, als sie endlich einschlief, so glücklich wie schon seit Wochen nicht mehr.